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26.10.2020

Stadtallendorfer Ehrenbürgerin Eva Pusztai-Fahidi feiert 95. Geburtstag

Wiederbegegnungen in Münchmühle

Ohne die schreckenerregenden, wie Galgen gekrümmten Pfeiler aus Beton und das unerbittliche dichte Gespinst des Stacheldrahts würde das Bild beinahe idyllisch wirken. Die klare Frühlingssonne, das frische Grün der blühenden Wiesen und der weiche Wind, der die Gräser und Blumen zu bewegen scheint - all das gibt der mahnenden Szene zunächst den dazu im Widerspruch stehenden Charakter eines Urlaubstages. Eines der bekanntesten Gemälde des 19. Jahrhunderts von Hans Thoma (1839-1924) mit dem Titel "Auf einer Waldwiese" (1876, Hamburger Kunsthalle) kommt dem Betrachter der Fotografie vielleicht in den Sinn. Auf beiden Bildern steht in der Landschaft eine einzelne weibliche Person - allein und doch nicht einsam, ohne Begleitung und dennoch nicht verlassen, in Gedanken verloren und doch ganz bei sich.

Bildgeschichtlich ist die Fotografie durch ihre Verwandtschaft mit der romantischen "Heimat"-Kunst des späten 19. Jahrhunderts ein sehr "deutsches" Bild. Umso betroffener macht der Blick auf das bedrohliche tödliche Stacheldrahtverhau und die Betongalgen. "Deutsch" ist das Bild auch oder gerade durch diesen Kontrast. Mitten in der Frühlingssonne in der duftigen Heide steht ein Ort des Leidens. Gewalt und Unterdrückung erscheinen so als Teil der trügerischen Idylle des Heimatfriedens. Allzu leicht, so scheint die Botschaft dieser Fotografie zu lauten, deckt der "vor Glück alles vergessende" und verdrängende, schwelgerische Moment des seeligen Hochgefühls die Abgründe der politischen Wirklichkeit zu. "Der Tod ist ein Meister aus Deutschland" - dieses Gedicht von Paul Celan scheint zu der gefühlvollen Landschaftsaufnahme so gar nicht zu passen. In der Gleichzeitigkeit von romantisch-ästhetisierender Verklärung und politischem Totalitarismus besteht jedoch einer der Gründe für die düstere Verführungskraft des Nationalsozialismus. Bewusst oder unbewusst ist die Erinnerung daran Teil der eindrucksvollen Fotografie.

Als Dokument zeigt die Aufnahme die Holocaust-Überlebende Eva Pusztai-Fahidi bei einem Besuch der Gedenkstätte des KZ-Außenlagers Münchmühle in Stadtallendorf im Mai 2017. Der Besuch der ehemaligen Zwangsarbeiterin, die im August 1944 nach Auschwitz deportiert und von dort als Arbeitssklavin in die Munitions- und Sprengstoffwerke der DAG im damaligen Allendorf verschickt wurde, ist eine der vielen Gesten der Versöhnung. Durch ihren Kontakt zu Schüler*innen, durch ihre Anteilnahme an der Konzeption und Einrichtung des DIZ Stadtallendorf und durch die vom DIZ 2004 besorgte Veröffentlichung ihrer Lebenserinnerungen ist Eva Pusztai-Fahidi seit der deutschen Wiedervereinigung 1990 Stadtallendorf eng verbunden. Eva Pusztai-Fahidi wurde 2014 die erste weibliche Ehrenbürgerin von Stadtallendorf.

Fast dreimal so hoch wie sie selbst sind die galgenartigen Betonpfeiler, von denen Eva Pusztai-Fahidi auf der Fotografie umgeben ist. Der Besuch ist eine Erinnerung an die Schrecken der Ausbeutung und der Gewalterfahrung in den Sprengstoff-Produktionsstätten der DAG und in dem Zwangsarbeiterinnenlager, in dem auch sie selbst interniert war. Das maigrüne Kleid, das sie trägt und das der Heideidylle der Umgebung so ähnlich ist, erscheint dabei wie ein Signal, die Last der Erfahrungen durch das Leben und Überleben von innen her aufzubrechen und zu besiegen. Die übermächtig scheinenden Betongalgen sehen blass und zerbrechlich aus gegen dieses Zeichen des Lebenswillens und der Kraft des Erinnerns. "Vergeben ja, vergessen nie" - diese Maxime von Eva Pusztai-Fahidi ist die eigentliche Botschaft dieser Fotografie als ihrem "Landschafts-Porträt". - Eva Pusztai-Fahidi feierte am 22.Oktober 2020 ihren 95.Geburtstag.

Quelle: Stadt Stadtallendorf